32

 

Dante war jetzt schon bedeutend länger als ein paar Minuten weg, und das Warten machte Tess verrückt. Sie hatte so viele Fragen, so viel in ihrem Geist zu sortieren. Und ungeachtet des belebenden Summens tief in ihrem Körper fühlte sie sich äußerlich ausgelaugt, zerschlagen.

Eine heiße Dusche in Dantes weiträumigem Badezimmer half einen Teil dieses Gefühls wegzuwaschen. Auch die frische Wäsche, die er für sie im Schlafzimmer bereitgelegt hatte, tat wohl. Unter den Augen von Harvard, der sich auf dem Bett zusammengerollt hatte, schlüpfte Tess in die braune Cordhose und das braune Strickhemd und setzte sich dann hin, um ihre Schuhe anzuziehen.

Die Kratzer und kleinen Blutspritzer darauf waren ein sichtbares Protokoll des Überfalls, den sie durchlitten hatte. Ein Überfall, das wollte sie Dante gern glauben, ausgeführt von nichtmenschlichen Kreaturen mit einem Durst -  einer Sucht -  nach Blut.

Vampire.

Es musste doch eine vernünftigere Erklärung geben, eine, die sich auf Fakten stützte, nicht auf Folklore. Tess wusste, dass so etwas unmöglich war, und doch wusste sie, was sie erlebt hatte.

Sie wusste, was sie gesehen hatte, als ihr erster Angreifer in Bens Stockwerk vom Balkon sprang und elastisch wie eine Katze auf den Füßen landete. Sie wusste, was sie gefühlt hatte, als dieser Mann und der zweite, der zu ihm gestoßen war, sie vom Bürgersteig in den alten Schuppen zerrten. Sie hatten sie gebissen wie rasende Raubtiere. Sie hatten ihr mit riesigen Fängen die Haut durchbohrt und ihr das Blut ausgesaugt, sich an ihr satt getrunken wie in einem Horrorfilm.

Wie die Vampire, als die Dante sie bezeichnet hatte.

Wenigstens war sie jetzt in Sicherheit, wo immer Dante sie auch hingebracht hatte. Sie sah sich in dem großen Schlafzimmer um. Die wenigen schlichten Möbel kündeten von Understatement. Alles wirkte sehr männlich, mit klaren Linien und dunklen Oberflächen. Die einzige Schwelgerei war das Bett. Es war riesig und beherrschte den Raum, seine mattschwarzen Seidenlaken weich und schimmernd wie Rabenschwingen.

Im angrenzenden Wohnzimmer fand Tess vergleichbar geschmackvolle Einrichtungsgegenstände vor. Dantes Quartier fühlte sich behaglich und unaufgeregt an, wie der Mann selber.

Der ganze Ort wirkte heimelig, allerdings nicht wie ein Haus. Es gab in keiner der Wände ein Fenster, nur teuer aussehende zeitgenössische Kunst und gerahmte Fotografien. Er hatte erwähnt, dass dieser Ort ein Hauptquartier war, und nun fragte sich Tess, wo genau sie sich befand.

Sie spazierte aus dem Wohnzimmer in einen gefliesten Vorraum. Neugierig öffnete sie die Tür und sah in einen Korridor aus schimmerndem weißen Marmor. Tess spähte den langen Flur entlang, dann zur anderen Seite. Nichts als ein leerer, gewundener Tunnel aus poliertem Stein. Auf dem Boden waren in den schneeweißen Marmor Intarsien eingelegt, offenbar eine Reihe von Symbolen -  ineinandergreifende geometrische Bögen und Wirbel, ausgeführt in Obsidian. Sie waren ungewöhnlich und faszinierend, manche von ihnen bildeten ähnliche Muster wie die schönen, vielfarbigen Tattoos, die Dantes Oberkörper und Arme zierten.

Tess bückte sich, um die Intarsien genauer anzusehen. Sie war so in die Betrachtung der Zeichen versunken, dass sie Harvard nicht bemerkte, bis der Terrier an ihr vorbeischlüpfte und den Korridor entlangtrottete.

„Harvard, komm zurück!“, rief sie ihm nach, aber der Hund lief weiter und verschwand um die nächste Kurve des gewundenen Flures.

Verflucht.

Tess stand auf, warf einen Blick auf den leeren Flur und folgte dem Hund. Die Jagd führte sie ein langes Stück Flur hinunter, dann das nächste. Jedes Mal, wenn sie den streunenden Terrier fast erwischt hatte, entwischte er ihrem Griff und trabte weiter durch das endlose Netz aus Korridoren, als ob sie ein Spiel spielten.

„Harvard, du kleiner Gangster! Stopp jetzt!“, flüsterte sie scharf, aber leider ergebnislos.

Sie wurde jetzt ungeduldig, auch befielen sie Zweifel, ob sie sich hier allein herumtreiben sollte. Obwohl sie sie nicht sehen konnte, war sie sicher, dass hinter den undurchsichtigen Glaskugeln, die alle paar Schritte an der Wand montiert waren, Sicherheitskameras jede ihrer Bewegungen registrierten.

Es gab nirgends Hinweise, die etwas über den jeweiligen Standort verrieten oder wohin all die labyrinthischen Gänge führen mochten. Wo immer das war, was Dante sein Zuhause nannte, es war ausgerüstet wie eine Hightech-Regierungszentrale. Das wiederum machte seine haarsträubenden Behauptungen über einen Untergrundkrieg und die Existenz gefährlicher Nachtgeschöpfe nur glaubwürdiger.

Tess folgte dem Hund um eine scharfe Rechtskurve, die in einen anderen Flügel des Hauptquartiers zu führen schien. Endlich wurde Harvards weitere Flucht vereitelt. Ein Paar Schwingtüren versperrte ihm am Ende der Halle den Weg. Ihre kleinen quadratischen Fenster auf Augenhöhe hatten Milchglasscheiben, die keinen Einblick gewährten.

Tess näherte sich vorsichtig. Sie wollte weder den Hund erneut aus ihrer Reichweite scheuchen noch wusste sie, was sich auf der anderen Seite dieser Türen befand. Es war still hier.

Nichts außer endlosem weißen Marmor, wo immer sie auch hinsah. In der Luft lag ein Hauch von Desinfektionsgeruch.

Irgendwo in der Nähe nahmen ihre Ohren ein schwaches elektronisches Piepsen wahr, wie von medizinischem Gerät, sowie einen anderen rhythmisch-metallischen Klang, den sie nicht einordnen konnte.

War dies so eine Art Krankenstation? Es fühlte sich alles steril genug an, aber es gab keinerlei Lebenszeichen von Patienten, kein herumhuschendes Personal. Hier war überhaupt niemand, soweit sie das sagen konnte.

„Komm her, du kleines Biest“, knurrte sie und bückte sich direkt vor der Doppeltür, um den Hund hochzunehmen.

Harvard mit einem Arm an die Brust gepresst, drückte Tess einen der Türflügel einen Spaltbreit auf und linste neugierig hindurch. Noch ein Korridor. Gedämpftes Licht erzeugte ein sanftes Halbdunkel. Sie erkannte eine Reihe geschlossener Türen auf jeder Seite des Gangs. Langsam schlüpfte sie durch die Schwingtür und wagte sich ein paar Schritte hinein.

Sofort entdeckte sie die Quelle des Piepsens: Eine Konsole digitaler Anzeigetafeln war zu ihrer Linken an die Wand montiert.

Das Arrangement aus Kontrolllämpchen war dunkel bis auf eine Handvoll in einem Gitter auf der unteren Seite des Schirms. Das schien so eine Art EKG-Monitor zu sein, auch wenn sie noch nie etwas Vergleichbares gesehen hatte. Aus dem hintersten Raum am Ende des Flures erklang ein sich beständig wiederholendes Rasseln und Wummern wie von etwas Schwerem.

„Hallo?“, rief Tess in die Leere. „Ist hier jemand?“

Sobald die Worte ihren Mund verließen, verstummten alle anderen Geräusche, sogar das Piepsen vom Monitor. Sie blickte auf die Tafel, und im selben Moment erloschen die Lichter. Als hätte jemand die Verbindung unterbrochen, die zum Inneren des hinteren Raumes bestand.

Ein unbehagliches Gefühl kroch ihr das Rückgrat hinauf.

Harvard begann sich in ihrem Arm zu winden und zu jaulen. Er zappelte sich frei, sprang zu Boden und rannte zurück in den Flur. Tess konnte den Schrecken, der sie erfasst hatte, nicht benennen, aber sie konnte hier auch nicht weiter herumstehen und einen Namen dafür suchen.

Sie machte kehrt und marschierte zu den Schwingtüren zurück. Im Gehen wandte sie den Kopf, um zu sehen, ob sich hinter ihr etwas rührte. Da spürte sie eine plötzliche Temperaturveränderung -  einen kühlen Lufthauch auf ihrer Haut, der ihr den Nacken hinaufzog.

„Scheiße“, flüsterte sie, jetzt mehr als nur nervös.

Sie streckte die Hand aus, um die Tür aufzustoßen, und zuckte zurück, als ihre Handfläche etwas Warmes, Unbewegliches berührte. Sie fuhr zusammen und riss erschrocken den Kopf herum. Ihr Blick prallte gegen das grausig zernarbte Gesicht und den Brustkorb eines riesigen, muskulösen Mannes.

Nein, kein Mann.

Ein Monster mit riesigen Klauen und feurig glühenden Bernsteinaugen, wie die ihrer Angreifer von der Straße.

Ein Vampir.

Ein Wirbelsturm lebhafter, grässlicher Erinnerungen bombardierte Tess mit Eindrücken des Rogue-Überfalls: brutale Finger, die sich in ihre Arme bohrten, sie niederdrückten; scharfe Zähne, die rasend in sie eindrangen, das endlose, fieberhafte Ziehen an ihren Venen; entsetzliches tierisches Grunzen und Knurren, als die Biester von ihr tranken. Sie sah das Pflaster im Mondschein, den dunklen Seitenweg, den verrotteten Schuppen, in dem sie zu sterben glaubte.

Doch dann, so plötzlich wie unpassend in ihrer Lage, sah sie den kleinen Lagerraum im hinteren Teil ihrer Klinik. Da lag ein großer Mann mit dunklen Haaren auf den Boden hingestreckt.

Er blutete. Er starb. Sein Körper war voller Schussverletzungen und anderer Wunden. Sie beugte sich über ihn …

Nein, das gehörte nicht zu ihren Erinnerungen. Es war gar nicht passiert … oder doch?

Sie hatte keine Zeit, ihre Gedanken zu ordnen. Der Vampir, der ihr den Fluchtweg verstellt hatte, kam auf sie zu. Hoch aufgerichtet nahm er sie mit wilder Wut in den Blick, die enormen Fangzähne tödlich weiß und scharf genug, um sie in Fetzen zu reißen.

 

Dante stand in Gideons und Savannahs Arbeitszimmer und wartete auf ein Urteil über das Flashdrive, das Tess in ihrer Jackentasche gehabt hatte. „Glaubst du, du kannst das Ding entschlüsseln, Gid?“

„Bitte.“ Der blonde Vampir bedachte ihn mit einem schelmischen Seitenblick. „Du beliebst zu scherzen“, sagte er mit schwerer Betonung auf seinem verblichenen englischen Akzent. Er hatte das Flashdrive schon in seinen Computer gestöpselt, und seine Finger flogen über die Tastatur. „Ich hab mich ins FBI gehackt, in die CIA, in unseren eigenen IID und in jede andere hackersichere Datenbank, die es gibt. Das hier wird ein Kinderspiel.“

„Ja? Lass mich wissen, was du entdecken kannst. Ich muss weiter. Tess wartet auf mich …“

„Nicht so schnell“, sagte Gideon. „Ich bin fast drin. Glaub mir, das wird nicht lange dauern, vielleicht fünf Minuten. Lass es uns spannend machen. Gib mir zwei Minuten und dreißig Sekunden als Maximum. Ab jetzt.“

Neben ihm lehnte Savannah in dunklen Jeans und schwarzem Sweater an einem antiken geschnitzten Mahagonipult. Sie lächelte und rollte die Augen: „Es ist der Sinn seines Lebens, uns zu beeindrucken, das weißt du doch.“

„Das wäre ja zu ertragen, wenn der Mistkerl nicht immer recht behalten würde“, stöhnte Dante in gespielter Verzweiflung.

Savannah lachte. „Willkommen in meiner Welt.“

„Schade, dass du keine Computerdateien durch Handauflegen entziffern kannst“, sagte er. „Dann bräuchten wir uns nicht mit diesem Kerl abzugeben.“

„Sei’s drum“, sie seufzte dramatisch. „Psychometrie funktioniert so nun mal nicht, jedenfalls nicht bei mir. Ich kann dir sagen, was Ben Sullivan angehabt hat, als er den Flashdrive bei sich trug, ich kann den Raum beschreiben, in dem er war, seinen Bewusstseinszustand, aber ich kann nicht in elektronische Schaltkreise eindringen. Gideon ist in diesem Fall unsere beste Chance.“

Dante zuckte die Achseln. „Dann haben wir wohl Pech, was?“

Am Computer hackte Gideon eine letzte Salve in die Tasten, dann lehnte er sich zurück und faltete die Hände hinter dem Kopf. „Ich bin drin. Das waren eine Minute und neunundvierzig Sekunden, um exakt zu sein.“

Dante umrundete ihn, um auf den Bildschirm zu schauen.

„Was haben wir denn da?“

„Datenpakete, Tabellenkalkulationen, Flussdiagramme.

Pharmazeutische Tabellen.“ Gideon bewegte die Maus und klickte eine der Dateien auf. „Sieht aus wie ein chemisches Experiment. Braucht jemand ein Rezept für Crimson?“

„Gott im Himmel! Das ist es?“

„Darauf würde ich wetten.“ Mit finsterem Blick klickte sich Gideon durch weitere Dateien. „Da ist allerdings mehr als eine Formel auf dem Drive, das erschwert die Sache. Wir können nicht wissen, welche funktioniert, ehe wir nicht die Substanzen besorgt und jede einzelne ausprobiert haben.“

Dante harkte sich mit den Fingern durchs Haar und begann hin und her zu tigern. Er war begierig, mehr über die Formeln zu erfahren, die Ben Sullivan auf dem Flashdrive gespeichert hatte. Andererseits zog es ihn in sein Quartier zurück. Er konnte Tess’ Unruhe spüren, denn ihre Blutsverbindung schuf einen beständigen Kontakt zwischen ihnen. Es war wie ein unsichtbarer Draht, der ihn mit ihr verband, als wären sie eins.

„Wie geht es ihr?“, fragte Savannah, die offenbar ahnte, was ihn umtrieb.

„Besser“, erwiderte er. „Sie ist wach und erholt sich. Körperlich geht es ihr gut. Ansonsten habe ich versucht, sie in alles einzuweihen, aber ich merke, dass sie ziemlich durcheinander ist.“

Savannah nickte. „Wer wäre das nicht? Ich dachte, Gideon spinnt, als er mir zum ersten Mal von alledem erzählt hat.“

„Du denkst doch immer noch meistens, dass ich spinne, Liebes, das ist ein Teil meines Charmes.“ Er beugte sich zu ihr hinüber und deutete einen Biss in ihren jeansverpackten Schenkel an, ohne dass seine Finger auf der Tastatur aus dem Rhythmus kamen.

Spielerisch schlug sie nach ihm, dann richtete sie sich auf und schlenderte zu Dante, der dabei war, eine Furche in den Teppich zu laufen. „Meinst du, Tess ist hungrig? Ich habe in der Küche gerade Frühstück für Gabrielle und mich gemacht. Ich kann ein Tablett für Tess zusammenstellen, wenn du es ihr mitbringen willst.“

„Oh ja! Danke, Savannah, etwas zu essen wäre großartig.“

Gott, er hatte gar nicht bedacht, dass Tess etwas essen musste. Da zeigte sich bereits, was für ein umsichtiger Gefährte er doch war. Er kümmerte sich kaum anständig um sich selbst, und jetzt hatte er eine Stammesgefährtin mit menschlichen Bedürfnissen und Wünschen, die weit außerhalb seiner Kompetenz lagen. Seltsam genug, dass dieser Gedanke, der ihm in nicht allzu ferner Vergangenheit schwer zu schaffen gemacht hätte, sich nun irgendwie … beglückend anfühlte. Er wollte Tess versorgen, auf jede Art. Er wollte sie beschützen und sie glücklich machen, sie verwöhnen wie eine Prinzessin.

Zum ersten Mal in seinem langen Leben fühlte er sich, als hätte er seine eigentliche Erfüllung gefunden. Nicht Ehre und Pflicht, die Maximen, die ihn als Krieger auswiesen, aber gleichermaßen zwingend und rechtschaffen. Etwas, das alles Männliche in ihm ansprach.

Er hatte das Gefühl, als könnte diese Verbindung, die er gefunden hatte -  die Liebe, die er für Tess empfand - , tatsächlich stark genug sein, um ihn den Tod und die Qual vergessen zu lassen, die ihn seit jeher verfolgten. Ein hoffnungsvoller Teil seines Selbst wollte glauben, dass er mit Tess an seiner Seite vielleicht einen Weg finden konnte, seiner Vision einen Strich durch die Rechnung zu machen.

Dante war noch nicht dazu gekommen, diesen Hoffnungsschimmer richtig zu genießen, als ein Schrei ihn durchfuhr wie eine Klinge. Er fühlte es körperlich, doch der Angriff war nur in seinen Sinnen, was er daran merkte, dass weder Savannah noch Gideon auf das schreckliche Kreischen reagierten, von dem ihm das Herz in der Brust zu Eis gefror.

Wieder durchfuhr es ihn und ließ ihn schaudernd zurück.

„O Gott. Tess!“

„Was ist los?“ Savannah unterbrach ihren Gang in die Küche.

„Dante?“

„Es ist Tess“, rief er und konzentrierte seinen Geist auf sie, um ihren genauen Aufenthaltsort im Quartier zu lokalisieren. „Sie ist irgendwo im Haupttrakt -  ich glaube, in der Krankenstation.“

„Ich hole das Bild auf den Schirm.“ Am Computer hatte Gideon schnell den Monitor der Überwachungskameras aktiviert und die richtige gefunden. „Ich hab sie, D. Oh, verdammt. Sie ist Rio über den Weg gelaufen. Er hat sie gestellt …“

Dante rannte los, als gelte es sein Leben, noch ehe die Worte Gideons Mund verlassen hatten. Er brauchte keinen Bildschirm, um zu wissen, wo Tess war und was ihr solche Angst machte. Er stürzte aus der Wohnung und wie der Teufel ins Herz des Hauptquartiers. Er kannte den Grundriss des Quartiers in und auswendig und nahm den kürzesten Weg zur Krankenstation mit der übernatürlichen Geschwindigkeit, zu der er fähig war.

Dante hörte Rios Stimme, noch bevor er die Schwingtüren zur medizinischen Abteilung erreichte.

„Ich habe dir eine Frage gestellt, Weib. Was zur Hölle hast du hier zu suchen?“

„Weg von ihr!“, brüllte Dante, als er die Krankenstation erreichte, und betete im Stillen, dass er sich nicht mit einem seiner Art würde schlagen müssen. „Zurück, Rio, sofort!“

„Dante!“, schrie Tess, die vor Angst keuchte. Ihr Gesicht war aschfahl, und sie zitterte unkontrolliert hinter der massiven Wand von Rios Körper. Der Krieger hatte sie zwischen sich und der Korridorwand gefangen. Feindseligkeit strahlte in blendend heißen Wellen von ihm ab.

„Lass sie gehen“, befahl Dante seinem Bruder.

„Dante, sei vorsichtig! Er wird dich töten!“

„Nein, wird er nicht. Es ist in Ordnung, Tess.“

„Diese Frau gehört hier nicht her“, knurrte Rio wild.

„Doch, das tut sie. Weil ich es sage. Jetzt hör auf und lass sie in Ruhe.“

Rio entspannte sich nur geringfügig. Er warf den Kopf herum, um Dante anzusehen. Herrje, es war schwer, sich an den Krieger zu erinnern, der er gewesen war -  bis sie in den Hinterhalt gerieten, der ihn so zerstört hatte. Physisch wie mental. Das einst angenehme Gesicht des Spaniers mit dem steten Lächeln und dem gemütlichen Witz war jetzt ein Gewirr aus rötlichen Narben. Sein Humor hatte ihn längst im Stich gelassen, dafür war er besessen von einer Wut, die vielleicht nie mehr vergehen würde.

Dante baute sich direkt vor Rio auf und starrte durch die Narben auf Wangen und Stirn hindurch in seine Augen. Im Moment glommen sie so roguehaft, dass sogar Dante für eine Sekunde stutzte. „Ich sagte, hör auf!“, knurrte er. „Die Frau ist mit mir hier. Sie gehört zu mir. Verstehst du das?“

Vernunft flackerte in den leuchtenden Bernsteintiefen von Rios Augen auf. Ein kurzer Schimmer von Bewusstsein, von Reue und Bedauern. Er wandte sich mit einem Grunzen von Dante ab, sein Atem drang immer noch sägend aus dem offenen Mund.

„Tess, es ist alles in Ordnung. Geh einfach an ihm vorbei und komm rüber zu mir.“

Sie stieß ein abgehacktes Keuchen aus, schien aber unfähig, sich zu rühren.

Dante streckte ihr die Hand entgegen. „Komm, mein Engel.

Alles ist gut. Ich verspreche dir, dass du sicher bist.“

Es sah aus, als kostete es sie all ihren Mut, aber sie schob sich von Rio weg und legte ihre Hand in Dantes. Er zog sie rasch an sich und küsste sie, erleichtert, sie bei sich zu haben.

Als Rio langsam an der Korridorwand zusammensackte und schließlich auf allen vieren am Boden kniete, verlangsamte sich Dantes Puls und erreichte wieder eine Frequenz, die fast normal erschien. Tess war immer noch außer sich und zitterte heftig.

Dante glaubte zwar nicht, dass Rio eine ernste Gefahr für sie darstellte -  schon gar nicht jetzt, nachdem Dante seine Haltung deutlich gemacht hatte - , doch er musste sich nun dringend um die Schadensbegrenzung kümmern.

„Warte hier. Ich gehe und helfe Rio zurück in sein Bett.“

„Bist du verrückt? Dante, wir müssen hier raus. Er wird uns beiden die Kehle aufreißen!“

„Nein, das wird er nicht.“ Er begegnete Tess’ ängstlichem Blick, während er sich Rios zusammengesunkener Gestalt näherte. „Er wird mir nichts tun. Er hätte dir auch nichts getan. Er wusste nur nicht, wer du bist. Ihm ist vor einiger Zeit etwas Schreckliches zugestoßen, das ihn Frauen gegenüber sehr argwöhnisch gemacht hat. Glaub mir, er ist kein Monster.“

Tess starrte Dante an, als sei er wahnsinnig geworden. „Dante, diese Fangzähne … diese Augen! Er ist einer von denen, die mich angegriffen haben …“

„Nein“, sagte Dante. „Er sieht nur so aus, weil er wütend ist, und er lebt in großem Schmerz. Sein Name ist Rio. Er ist ein Stammeskrieger wie ich.“

„V-Vampir“, keuchte sie stotternd. „Er ist ein Vampir …

Verdammt noch mal, er hatte sich nicht vorgestellt, dass sie die Wahrheit auf diese Weise erfuhr. Vielleicht war das naiv gewesen, aber er hatte gedacht, er könnte sie sanft in seine Welt ziehen -  eine Welt, die zu ihnen beiden gehörte. Er hatte gehofft, dass sie in Ruhe verstehen lernen würde, dass sie die Vampirrasse nicht zu fürchten brauchte. Dass sie ihre Furcht verlieren und begreifen würde, dass sie zu ihnen gehörte, weil sie nun mal eine Stammesgefährtin war.

Und die einzige Frau, die er je an seiner Seite wollte.

Aber jetzt offenbarte sich alles zu schnell. Ein Gewirr aus Halbwahrheiten und Geheimnissen umfing ihn wie eine Spirale aus Fallstricken, während sie ihn panisch anstarrte. In ihren Augen lag ein Flehen, er möge die unerträgliche Situation irgendwie wenden, sodass alles wieder Sinn ergab.

„Ja“, gab Dante zu, unfähig sie anzulügen. „Rio ist ein Vampir, Tess. Wie ich.“

Midnight Breed 02 - Gefangene des Blutes-neu-ok-10.11.11
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